Hinweis: Dieser Artikel berührt Themen wie historisches Trauma und kollektives Gedächtnis. Falls du merkst, dass dich das emotional sehr mitnimmt, gib dir die Erlaubnis, Pausen zu machen oder später weiterzulesen.
Der Name, der blieb
Ich habe ein sehr schlechtes Namensgedächtnis.
Namen rutschen mir durch die Finger wie Sand. Ich vergesse sie, kaum dass ich sie gehört habe. Manchmal schäme ich mich dafür, wenn ich Menschen zum dritten Mal nach ihrem Namen fragen muss.
Aber dieser eine Name ist geblieben.
Herta Mansbacher.
Meine Stiefmutter hat ihn vielleicht zwei-, dreimal erwähnt im Laufe der Jahre. Die Rektorin der Schule gegenüber. Meine Mutter war dort zur Schule gegangen und kannte sie. Eine allseits beliebte und kompetente Frau, hat sie gesagt.
In der Nazizeit wurde Herta Mansbacher deportiert und ermordet.
Es gibt einen kleinen Gedenkstein vor der Schule, der an sie erinnert. Ich bin dort einige Male vorbeigegangen. Und jedes Mal konnte ich nicht einfach weitergehen.
Kennst du das?
Dass ein Name, ein Stein, eine Geschichte dich festhält – obwohl du die Person nie gekannt hast? Obwohl es Jahrzehnte her ist? Obwohl es eigentlich nicht deine Geschichte ist?
Und trotzdem fühlt es sich an, als wäre ein Teil von dir dabei gewesen.
Das kollektive Gedächtnis – wenn Erinnerungen uns gehören, die nicht unsere sind
Wenn ich an diese schrecklichen Taten denke, bin ich zutiefst aufgewühlt.
An den sogenannten Stolpersteinen, die in der Stadt in den Gehweg eingelassen wurden, kann ich nicht achtlos vorübergehen. Ich bleibe stehen. Ich lese die Namen. Ich spüre etwas in mir, das schwer zu beschreiben ist.
Und manchmal kommen die Bilder.
In meinen Ohren klingt das Kratzen von Fingernägeln in der Gaskammer – ein Geräusch, das ich nie gehört habe. Wenn ich morgens kalt dusche, sehe ich gelegentlich nackte Menschen im Winter, die in einen Viehwaggon getrieben werden. Ich kenne das nur aus Erzählungen oder habe es irgendwo gelesen.
Dennoch ist es in mir so präsent, als wäre ich dabei gewesen.

Stolpersteine – Namen, die nicht vergessen werden
Empathievermögen über Generationen hinweg
Vielleicht kennst du das auch.
Dass du Dinge fühlst, die nicht direkt mit dir zu tun haben. Dass du Bilder siehst, Geräusche hörst, Gefühle spürst – von Ereignissen, die lange vor deiner Zeit geschehen sind.
Das ist kein Zufall. Und es ist auch kein Zeichen dafür, dass mit dir etwas nicht stimmt.
Es ist ein Zeichen für dein außergewöhnliches Empathievermögen.
Sensible Menschen haben oft eine besondere Fähigkeit: Sie spüren nicht nur das Leid der Menschen um sie herum – sie spüren auch das kollektive Gedächtnis. Die Erinnerungen, die in Orten, in Geschichten, in Familien gespeichert sind.
Psychologen nennen das transgenerationale Traumatisierung oder generationsübergreifendes Trauma: Die Art und Weise, wie Traumata über Generationen weitergegeben werden – nicht nur durch Erzählungen, sondern durch emotionale Resonanz, durch das Unausgesprochene, durch das, was verschwiegen wurde.
Die Redewendung, die ich nicht mehr benutzen konnte
"Bis zur Vergasung" – das war mir als Redewendung früher einmal geläufig gewesen. Naiv, wie ich war.
Bis ich irgendwann begriffen habe, was sie bedeutet.
Und dann konnte ich sie nicht mehr aussprechen.
Weil ich plötzlich wusste: Das waren keine abstrakten Worte. Das waren Menschen. Menschen wie Herta Mansbacher. Menschen, die Angst hatten. Die leiden mussten. Die starben.
Und irgendwo in mir – in diesem Teil von mir, der alles fühlt, der nichts vergisst, der keine Distanz schaffen kann – irgendwo da ist dieses Wissen eingraviert.
Das emotionale Erbe der Stille
Die Mutter meiner Stiefmutter war irgendwann einmal in das sogenannte Konzentrationslager Osthofen abgeholt worden, weil sie sich regimekritisch geäußert hatte.
Sie blieb eine Woche fort.
Und sie hat später nie darüber gesprochen, was in dieser Zeit geschehen war.
Nur dass das Wasser so kalt gewesen sei, in das sie ihre Füße gestellt hatten.
Mehr nicht.
Das ist das emotionale Erbe, das wir als sensible Menschen oft tragen: Das Unausgesprochene. Das Verschwiegene. Das, was zwischen den Zeilen steht.
Wir füllen die Lücken. Nicht mit Fakten, sondern mit Gefühlen. Mit Bildern. Mit einer Ahnung von dem, was war.
Herbstlaub – Vergänglichkeit und Erinnerung
Das Hier und Jetzt – und das Echo der Vergangenheit
Ich sitze da, lese die anschauliche Broschüre des Fördervereins über das Konzentrationslager Osthofen.
Dann geht das Licht im Treppenhaus an.
Chakie kommt vom Nachtdienst nach Hause und bringt mich ins Hier und Jetzt.
In seiner Heimat gab es schon wieder ein schweres Erdbeben. Das Frühwarnsystem hat wenig geholfen.
Und plötzlich wird mir klar: Das Leid ist nicht vorbei.
Es geschieht noch immer. Anders. Woanders. Aber es geschieht.
Und sensible Menschen wie wir – wir spüren es. Nicht nur das Leid von damals, sondern auch das Leid von heute. Nicht nur das Trauma unserer eigenen Vorfahren, sondern auch das Trauma anderer Menschen, anderer Kulturen, anderer Zeiten.
Empathie und Mitgefühl als Brücke
Das ist manchmal schwer zu tragen.
Dieses Empathie und Mitgefühl, das keine Grenzen kennt. Das sich nicht nur auf die eigene Familie, die eigene Geschichte, die eigene Zeit beschränkt.
Aber vielleicht ist es auch ein Geschenk.
Vielleicht sind wir diejenigen, die erinnern, wenn andere vergessen. Die fühlen, wenn andere abstumpfen. Die eine Brücke bauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den Generationen, zwischen den Kulturen.
Warum sensible Menschen das kollektive Gedächtnis besonders stark spüren
Es gibt wissenschaftliche Erklärungen dafür, warum hochsensible Menschen so stark auf kollektive Erinnerung reagieren:
1. Erhöhte emotionale Resonanz
Sensible Menschen haben ein feineres Nervensystem. Sie nehmen subtile emotionale Signale wahr – auch solche, die nicht ausgesprochen werden. Das gilt nicht nur für Menschen im Hier und Jetzt, sondern auch für das emotionale Erbe, das in Geschichten, Orten und Familien gespeichert ist.
2. Transgenerationale Traumatisierung
Traumata werden nicht nur durch Erzählungen weitergegeben. Sie können sich auch in Familiensystemen, in unbewussten Mustern, in Ängsten und Reaktionen zeigen. Sensible Menschen spüren diese Muster oft, ohne zu wissen, woher sie kommen.
3. Das kollektive Unbewusste
Der Psychologe C.G. Jung sprach vom kollektiven Unbewussten – einem gemeinsamen Reservoir an Erfahrungen, Bildern und Archetypen, das wir alle teilen. Sensible Menschen haben oft einen direkteren Zugang zu diesem kollektiven Feld.
4. Empathisches Vorstellungsvermögen
Wenn wir eine Geschichte hören oder einen Namen lesen, entsteht in uns ein inneres Bild. Bei sensiblen Menschen sind diese Bilder oft so lebendig, so real, dass sie sich anfühlen wie eigene Erinnerungen.
Das ist keine Schwäche. Das ist eine Form von tiefer Menschlichkeit.
Lichtreflexion im Wasser – Symbol für Erinnerung
Wie wir mit dem kollektiven Gedächtnis umgehen können
Wenn du spürst, dass dich das Leid vergangener Generationen stark berührt, dann bist du nicht allein.
Und du bist auch nicht verrückt.
Du bist sensibel. Und das bedeutet, dass dein Herz weit offen ist – nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für das Echo der Vergangenheit.
Drei Wege, um mit transgenerationaler Empathie umzugehen
1. Erkenne es an
Du darfst fühlen, was du fühlst. Du darfst betroffen sein. Du darfst weinen, wenn du an einem Stolperstein stehst. Das ist keine Übertreibung. Das ist Menschlichkeit.
2. Schaffe bewusste Grenzen
Du musst nicht jedes Leid auf dich nehmen. Du kannst achtsam erinnern, ohne dich darin zu verlieren. Atme bewusst. Komm zurück ins Hier und Jetzt. Spüre deine Füße auf dem Boden.
Das Licht im Treppenhaus geht an. Jemand kommt nach Hause. Das Leben geht weiter.
3. Verwandle Empathie in Handlung
Deine Sensibilität ist kein Fluch. Sie ist eine Gabe. Sie erinnert uns daran, dass wir füreinander da sein müssen. Dass wir Unrecht nicht vergessen dürfen. Dass wir heute handeln können, damit morgen weniger Leid entsteht.
Vielleicht bedeutet das, innezuhalten. Vielleicht bedeutet es, zu erinnern. Vielleicht bedeutet es, für Gerechtigkeit einzustehen – auf deine eigene, sensible Art.
Was bleibt: Die Würde der Erinnerung
Herta Mansbacher.
Ich werde diesen Namen nicht vergessen.
Nicht, weil ich ein gutes Namensgedächtnis habe. Sondern weil ein Teil von mir beschlossen hat, sie nicht vergessen zu lassen.
Und vielleicht ist das, was wir als sensible Menschen tun: Wir erinnern. Wir fühlen. Wir tragen das Echo weiter – nicht mit Schuld, sondern mit Bewusstsein.
Das kollektive Gedächtnis des Nationalsozialismus, das emotionale Erbe von Krieg, Flucht und Verlust – es lebt in uns weiter. Nicht, weil wir schwach sind, sondern weil wir stark genug sind, es zu tragen.
Und vielleicht heilen wir, indem wir erinnern.
Nicht mit Bitterkeit. Sondern mit Hoffnung.
Mit der Hoffnung, dass unsere Sensibilität eine Brücke baut. Zwischen damals und heute. Zwischen den Generationen. Zwischen den Menschen.
Licht im Wald – Hoffnung und Heilung
Eine Frage an dich:
Gibt es einen Namen, einen Ort, eine Geschichte, die dich nicht loslässt – obwohl sie nicht deine eigene ist? Schreib es mir in die Kommentare, wenn du magst. Oder behalte es für dich.
Aber wisse: Du bist nicht allein mit diesem Gefühl.
Du bist ein sensibler Held. Und deine Fähigkeit zu fühlen – auch das Leid vergangener Generationen – ist ein Zeichen deiner tiefen Menschlichkeit.
Wenn du merkst, dass dich solche Gedanken in Gedankenschleifen ziehen, kann der ABSCHALT-KOMPASS dir helfen, wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden.